«Mein Freund täuschte mir jahrelang Krebs vor»

Es begann wie die grosse Liebe und endete in einem Albtraum. Sarahs Freund täuschte vor, todkrank zu sein.

Er war genau mein Typ Mann», beginnt Sarah ihre Geschichte, «gross, kräftig, dunkle Haare, dunkle Augen, eben einer von den coolen Jungs». Er habe ihr von Anfang an gefallen. Seinen Namen möchte sie mir nicht verraten, und wir einigen uns darauf, ihn der Einfachheit halber Tim zu nennen. Sarahs Stimme klingt am Telefon leise und etwas unsicher, als wisse sie nicht genau, ob sie hier das Richtige tue. Dann, wie um all ihre Zweifel beiseitezuschieben, fährt sie hastig fort: «Wir waren beide 19 und lernten uns an einer Geburtstagsparty kennen. Er wohnte im Nachbardorf und war meine erste grosse Liebe.»

Diese Beziehung, die so unbeschwert nach einem Fest begann, sollte einige Jahre später im Streit in einer Tiefgarage enden – nichts Ungewöhnliches, so viel vorweg. Ungewöhnlich ist lediglich der Grund der Trennung: «Tim täuschte mir jahrelang vor, dass er Krebs hat», sagt Sarah und klingt emotionslos, fast wie jemand, der eine Szene aus einem schlechten Film nacherzählt.

«Bei mir wurde etwas gefunden»

Dabei hatte alles vielversprechend begonnen. Nach der Geburtstagsfeier ging es schnell, bis die beiden 19-Jährigen zusammenkamen. «Ich kannte seine Kollegen, er hatte einen guten Job und wir waren auf einer Wellenlänge», erzählt Sarah. Für beide war es die erste richtige Beziehung, sie seien völlig unbelastet und unvoreingenommen an die Sache herangegangen. «Er war der erste Mann, in den ich mich verliebte», sagt sie, und Tim habe sie verstanden «wie niemand sonst».

Umso schockierender die Nachricht, die nach wenigen Monaten Beziehung folgt. Das junge Paar sitzt an einem warmen Sonntagvormittag auf einer Bank in der Stadt, als Tim seiner Freundin erzählt, bei ihm sei «etwas gefunden» worden. «Er nannte mir die Art des Krebses und ich erinnere mich daran, wie fassungslos ich war», erzählt Sarah. «Mit so einer Nachricht rechnest du nicht. Da bricht buchstäblich die Welt in dir zusammen, du fällst einfach in ein Loch.»

Ein Lügengebilde

Tim beginnt, sein Lügengebilde um seine Freundin herum aufzubauen. Der Krebs könne nicht operiert werden, er befinde sich an einer zu heiklen Stelle. Die Ärzte würden versuchen, ihn mit Medikamenten zu behandeln. Es sei ungewiss, wie viel Zeit ihm noch bleibe. Diese wolle er aber unbeschwert mit seinen Liebsten geniessen. Sie solle mit niemandem über seine Krankheit reden, auch nicht mit Freunden oder der Familie.

Die grosse Frage nach dem Warum schwebt wie eine erdrückende Wolke in der Luft. «Wahrscheinlich hat er das getan, damit ich mich ihm verpflichtet fühle und nicht eines Tages davonlaufe», sucht Sarah nach dem Ansatz einer Erklärung. Eine andere hat die heute 26-Jährige nicht. Ausserdem gehe man ja auch ganz anders auf den Partner ein, wenn ein Schicksalsschlag wie dieser auftrete. «Da überlegst du nicht lange, wenn er dich sehen will, und lässt andere Verabredungen schnell mal sausen.» Das Theater, das Tim seiner Freundin vorspielt, dauert über zwei Jahre. Wie kann es sein, dass du nichts gemerkt hast, Sarah? Warst du nie misstrauisch?

«Er ging alle paar Wochen und Monate zu Untersuchungen ins Spital», lautet Sarahs zögerliche Antwort, «danach musste er ungefähr eine Woche auf die Ergebnisse warten. Er muss Agenda über seine Angaben geführt haben, denn die angeblichen Arzttermine waren von A bis Z durchgeplant.» Sie habe auch Rücksicht auf seinen Wunsch genommen, mit niemandem über die Krankheit zu sprechen. «Ich habe die ganze Sache in mich hineingefressen, was ein riesiger Druck war. Oft habe ich nicht mehr als vier Stunden geschlafen, daneben habe ich studiert und hatte zwei Jobs.» Und ausserdem, fügt sie an, rechne man ja auch einfach nicht damit, dass einem der Freund eine tödliche Krankheit vorspiele.

Reise ohne Medikamente

Ihren ersten Verdacht hat sie während ihrer gemeinsamen Ferien. Tim, der angibt, ständig auf Medikamente angewiesen zu sein, muss über die vielen Monate hinweg nachlässig geworden sein. Obwohl das Paar während der Reise ständig zusammen ist, sieht Sarah ihren Freund keine Tabletten nehmen. Als Tim unter der Dusche ist, nimmt sie ihren Mut zusammen und durchsucht heimlich seinen Koffer, findet jedoch nichts, was auf eine Krebsbehandlung hindeutet.

«Eigentlich bin ich ein Mensch, der grossen Wert auf Privatsphäre legt», sagt Sarah fast entschuldigend. Zu diesem Zeitpunkt habe es allerdings zum ersten Mal klick gemacht: «Ich dachte mir, okay, wir sind hier in den Ferien und wandern täglich mehrere Stunden, er hat keine Einschränkungen im Alltag und nimmt auch keine Medikamente – irgendetwas kann da nicht stimmen.»

«In diesem Spital gibt es keine Person, die so heisst»

Ihren Verdacht behält Sarah jedoch für sich. Sie hat plötzlich Angst vor dem Mann, der ihr gegenübersteht. Welche anderen Gedanken verbergen sich in einem Kopf, der anderen vortäuscht, todkrank zu sein? «Mein Vertrauen war von hundert auf null gesunken,» erzählt, Sarah, «ausserdem war ich ja allein mit ihm im Ausland». Erst nach der Rückkehr in die Schweiz spricht sie Tim via Whatsapp auf die fehlenden Medikamente an. Er habe sie zu Hause in der Schweiz vergessen, antwortet dieser gereizt.

Sarah lässt Wochen voller schlafloser Nächte verstreichen, bis sie Tim eines Morgens auf den nächsten Arzttermin anspricht. Tim wirkt angespannt und erzählt, er müsse noch am selben Nachmittag zur Untersuchung ins Spital. Sarah nimmt sich den Nachmittag frei, erzählt ihrem Chef, sie habe dringend etwas Privates zu erledigen. Dann steigt sie in ihr Auto und fährt ins besagte Spital. Am Empfang erkundigt sie sich nach ihrem Freund. «Die Dame suchte ihn im System, fand jedoch seinen Namen nicht», erinnert sich Sarah. «Nachdem ich ihr den Namen aufgeschrieben hatte, meinte sie: ‹Es tut mir wirklich leid, aber in diesem Spital gibt es keine Person, die so heisst.› Ich sagte nur: ‹merci, ade!›, stieg ins Auto und fuhr nach Hause.»

Die Wahrheit

Zu Hause angekommen, schreibt Sarah Tim eine Nachricht. Es stellt sich heraus, dass dieser tatsächlich im Spital gewesen war, «wahrscheinlich für den Fall, dass ich dort auftauchen würde, denn er ahnte, dass ich misstrauisch geworden war», erzählt sie, «allerdings wartete er draussen, während ich bereits hineingelaufen war.» Sarah beharrt auf die Wahrheit, droht Tim, seine Familie einzuschalten und mit der angeblichen Krankheit zu konfrontieren. Daraufhin gibt dieser alles zu. «Mein Verdacht war so stark gewesen, dass mich die Wahrheit gar nicht mehr schockierte», erzählt Sarah und fügt hinzu: «Irgendwie war ich einfach nur erleichtert, dass das Ganze zu Ende war.»

Sarah geht unter die Dusche und wäscht sich die Haare, fast so, als könnte sie die Ängste und Sorgen der letzten Monate einfach in den Abfluss spülen. Dann zieht sie sich an und geht hinaus. Sie möchte weg sein, bevor Tim bei ihr auftaucht, denn sie weiss, dass er sich mit einem solchen Ende nicht zufriedengeben würde. Doch Tim wartet bereits in der Tiefgarage auf sie. Als Sarah ihn sieht, gerät sie in Panik und rennt davon, Tim ihr hinterher. «Ich dachte im ersten Moment wirklich, er murkst mich ab und bringt mich so zum Schweigen», erinnert sich Sarah. Dann kommt ein Nachbar, schreitet ein. Tim versucht sich bei ihr zu entschuldigen. «Es war ein Horrorabend», fasst Sarah die Geschehnisse zusammen. Es folgen «kilometerlange Nachrichten» von Tim, woraufhin Sarah ihre Nummer wechselt. Immer wieder taucht sein Auto in ihrer Nähe auf, mal in ihrer Strasse, mal im Ausgang. «Ich alarmierte auch schon die Polizei, doch die konnte nicht viel tun», erzählt Sarah.

«Ruhe hatte ich erst drei Jahre nach der Trennung»

Nach fünf Monaten beschliesst sie, sich mit Tim für eine Aussprache zu treffen. «Ich wählte einen öffentlichen Ort und wartete in einem Café auf ihn, als plötzlich ein beinahe magersüchtiger Mann vor mir stand. Er hatte durch die ganze Geschichte 30 Kilo verloren und sah aus wie tot.» Das Gespräch dauert rund eine Stunde, in der Tim erneut versucht, sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Danach gehen beide nach Hause. Sein Auto taucht aber noch immer regelmässig in Sarahs Nähe auf. «Irgendwann habe ich mich mit jemandem getroffen», erzählt Sarah, «und plötzlich wusste er alles über ihn und versuchte mich damit unter Druck zu setzen.»

Tim hört nicht auf, Sarah zu beobachten – an ihrer Strasse, wo er ausser ihr sonst niemanden kennt, auf ihrem Arbeitsweg. Wie bist du mit diesem Druck umgegangen, Sarah? Zunächst habe sie ängstlich reagiert, antwortet diese. Dann wütend. Und mit der Zeit wurde ihr einfach alles gleichgültig: «Was passiert, passiert einfach.» Ruhe habe sie allerdings erst drei Jahre nach der Trennung gehabt. «Das ist allerdings nur das, was ich selbst gesehen habe», fügt sie hinzu, denn sie wisse nicht, wie viele Male er sie ohne ihr Wissen beschattet habe.

«Bei einem lauten Streit würde ich davonlaufen»

Obwohl Sarah ruhig und sachlich erzählt, werden in ihrer Stimme immer wieder Emotionen hörbar: Wut, Enttäuschung, Unsicherheit und manchmal auch Ungläubigkeit, fast so, als könne sie das Geschehene immer noch nicht richtig fassen. Wie gehst du heute mit dem Erlebten um, Sarah? «Ich reagiere auf viele Dinge viel empfindlicher als früher», lautet ihre Antwort. «Wenn zum Beispiel jemand bei einem Streit laut wird, laufe iche ich einfach davon.» Generell fühle sie sich in Beziehungen schnell eingeengt und gerate bei der Frage «Wo bist du, und mit wem?» in Panik. Ausserdem gebe es auch heute noch keinen Abend, an dem sie sich auf dem Nachhauseweg nicht umdrehe.

Trotzdem geht sie auch gestärkt in die Zukunft: «Heute würde ich vieles anders machen. Ich würde mich nicht mehr so lange unter Druck setzen lassen und würde mir schon viel früher Hilfe holen.» Sogar als sie die Wahrheit über Tims angebliche Erkrankung erfahren hatte, weihte sie ihre Familie nicht ein. Erst Wochen später habe sie mit ihren Eltern über die Geschehnisse gesprochen. «Heute hätte ich nicht mehr so viel Erbarmen», sagt Sarah. Sie habe das Erlebte einigermassen verarbeitet, es tue ihr nicht mehr weh, darüber zu sprechen. «Doch die Erinnerungen, die bleiben», fügt sie hinzu.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden in diesem Artikel die Personalien der Betroffenen geändert.

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